10 Fragen an Helga Velroyen

Geschrieben von: Hansueli „Voice“ Müller. Veröffentlicht in 10 Fragen an… – Hörgeräteträger

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Helga Velroyen

Hörgeräteträgerin

Software-Entwicklerin bei Google München

Bloggerin von hack and hear

 

 

 

Die 10 Fragen

 

KON|SENS: Du trägst seit 3.5 Jahren zwei Hörgeräte. Was sind sie Dir Wert?

 

HV: Von allen Fragen in diesem Interview finde ich das die schwierigste. Was sind sie mir wert? Im Prinzip ist das wie zu fragen „Was ist es dir wert, Freunde und soziale Kontakte zu haben?“ Viel natürlich, unbezahlbar viel würde ich sagen.

 

Das heisst aber nicht, dass ich mich gerne von Hörgeräteherstellern ausnehmen lasse. Ich finde es traurig, wie viel Geld man aus eigener Tasche für brauchbare Hörgeräte hinlegen muss. Ich muss jahrelang sparen um meine nächsten Hörgeräte bezahlen zu können und das obwohl meine Krankenkassenbeiträge schon nicht ohne sind.

 

KON|SENS:  Wann und wie hast Du gemerkt, dass Du Hörgeräte benötigst?

 

HV: Mein erstes Symptom war 2007 ein leichter Tinnitus. Im Laufe des Jahres 2008 habe ich gemerkt, dass ich in Situationen, wo viele Leute durcheinander reden (auf Parties etc.) oft Schwierigkeiten habe den Gesprächen zu folgen. Ich bin dann recht schnell zum HNO gegangen. Mein Hörverlust war damals noch auf einem Niveau, wo man mit Hörgeräten anfangen kann oder nicht, aber ich habe mich dann recht schnell dafür entschieden, weil ich wieder voll am sozialen Leben teilhaben können wollte.

 

KON|SENS: Wenn Du an die Anpassung der Geräte zurück denkst, was war besonders positiv?

 

HV: Wenn ich zurückdenke, war das positivste, dass ich nach 2 Wochen nicht mehr auf die Hörgeräte verzichten wollte. Die ersten zwei Wochen war es mir immer noch mal passiert, dass ich das Haus ohne Hörgeräte verlassen habe und erst beim Bäcker, wo ich ein Brötchen kaufen wollte, gemerkt habe, dass ich die Hörgeräte vergessen habe. Nach zwei Wochen war ich aber so daran gewöhnt, dass ich nicht mehr ohne das Haus verlassen wollte.

 

Generell muss ich sagen, dass mein Akustiker sehr freundlich war und ich mich wohl fühlte bei den Anpassterminen. Menschlich fühlte ich mich sehr gut aufgehoben.

 

KON|SENS:  und negativ?

 

HV: Ehrlich gesagt, vieles.

 

Zum einen finde ich die Öffnungszeiten von Akustikern nicht sehr arbeitnehmerfreundlich. Ich habe meine erste Anpassung noch während des Studiums gemacht. Damals war ich zeitlich noch recht flexibel, also konnte ich auch mal Termine mitten am Tag wahrnehmen. Aber selbst dann musste ich durchaus „feilschen“ um jede Woche einen zu bekommen. Ich möchte gar nicht wissen, wie das gewesen wäre, wenn ich nur vor oder nach der Arbeit hätte kommen können. Auch ist es leider sehr selten, dass Akustiker am Samstag aufhaben, selbst in den grossen Städten wie München.

 

Am meisten hat mich allerdings gestört, dass es mit dem Technikwissen der Akustiker nicht weit her war. Es war während meiner Anpassung schon so, dass ich oft technische Fragen gestellt habe, die meine Akustiker nicht beantworten konnten und erst umständlich in Erfahrung bringen mussten. Jetzt wo ich mich selber so viel mit Hörgeräten und der Technik darin und drum rum beschäftigt habe, denke ich auch, dass ich teilweise schlecht beraten worden bin. Ich kann verstehen, dass Akustiker es nicht gewohnt sind, solche Fragen und Details klären zu müssen, da die meisten Ihrer Kunden älter und vielleicht nicht so technik-affin sind, aber dennoch fand ich es erschreckend, wie schnell ich als Laie Fragen stellen konnte, die sie überfordern.

Um mal ein Beispiel zu nennen: mir wurden Hörgeräte verkauft, die keine T-Spule haben und ein Siemens Tek welches mir als „das Tool für technikaffine Menschen“ angepriesen wurde. Im Nachhinein bin ich sehr enttäuscht davon. Dadurch dass es nur Bluetooth kann und meine Hörgeräte keine T-Spule haben, kann ich ausschliesslich mit bluetooth-fähigen Telefonen telefonieren. Das heisst wiederum, dass ich so gut wie keine Festnetztelefone benutzen kann, weil die meisten kein Bluetooth können. Ich habe mir für Zuhause sogar ein bluetoothfähiges Festnetztelefon gekauft, aber das nützt mir natürlich auf der Arbeit nichts. Dort haben wir nur „normale“ Telefone und das führt dazu, dass ich weiterhin vermeide überhaupt telefonieren zu müssen.

 

KON|SENS: Auf was legst Du besonders Wert beim Kauf eines Hörgerätes?

 

HV: Wie gesagt, steht mir in nächster Zeit erst der Kauf meines zweiten Paares Hörgeräte bevor. Seit ich die ersten habe, habe ich mich intensiv mit der Technik beschäftigt und habe mittlerweile sehr detaillierte Vorstellungen was ich haben möchte:

Zunächst natürlich gute Signalverarbeitung. Ich möchte mit Freunden in einer lauten Kneipe sitzen und trotzdem noch der Unterhaltung folgen können. Das ist das A und O um Teilhabe am sozialen Leben zu haben.

Da ich sehr audiophil bin und gerne Musik geniesse, bin ich auch immer sehr interessiert daran, dass meine Hörgeräte ein Musikprogramm haben, mit dem sich Musik gut anhört.

Der dritte, wichtige Punkt ist die Kompatibilität zu anderen technischen Systemen. Daher möchte ich, dass meine Hörgeräte (ggfs. über Adapter) sowohl T-Spule haben und Induktionsschleifen nutzen, als auch einen Eurostecker-Eingang, als auch kompatibel zu FM Systemen und Bluetooth sind, damit ich jede Möglichkeit der Kommunikation nutzen kann.

 

Es passt nicht ganz hierhin, aber weil du es nicht extra gefragt hast, möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen worauf ich explizit _keinen_ Wert lege: die Grösse und „Unsichtbarkeit“ des Gerätes.

 

Mir ist es ziemlich egal, wie klein oder unsichtbar die Geräte mittlerweile sind. Ich würde doppelt so grosse Geräte mit mir rumtragen, wenn diese dafür auch doppelt so gute Signalverarbeitung hätten. Auch empfinde ich es im Umgang mit anderen Menschen eher als hinderlich, wenn man die Hörgeräte nicht sieht. Wenn mich jemand etwas fragt und ich es nicht verstanden habe und nachfragen muss, kann mein Gesprächspartner schnell zu dem Schluss kommen „Die ist dumm, die versteht nicht was ich sage.“ Würden meine Hörgeräte sichtbarer sein, besteht die Chance, dass er eher denkt „Ah, sie kann nicht gut hören, also hat sie es nur akustisch nicht verstanden.“

 

Einer meiner Akustiker hat mir mal erzählt, dass es vor allem die älteren Kunden sind, die nicht möchten dass man die Hörgeräte sieht. Für sie ist es ein „Zeichen des Älterwerdens“. Den jungen Leuten ist es egaler, sie müssen so oder so mit der Behinderung leben und möchten eher nicht, dass die Industrie Kompromisse in der Signalverarbeitung zugunsten der Grösse der Geräte macht.

 

KON|SENS: Wo liegen Deiner Meinung nach die grossen Schwächen der Hörgeräte und dem Service der Hörgeräteakustiker?

 

HV: Wie erwähnt, ist es bei den Hörgeräten die Tatsache, dass das „Cocktailpartyproblem“ nicht zufriedenstellend gelöst ist und die mangelnde Kompatibilität zwischen Hard- und Software verschiedener Hersteller.

 

Bei den Akustikern sind es die nicht-arbeitnehmerfreundlichen Öffnungszeiten und das (zumindest meiner Erfahrung nach oft) mangelnde technische Wissen.

Ein Punkt, den ich mir hier auch wünschen würde, wäre besserer „Notfallservice“. Wenn meine Hörgeräte an einem Samstagnachmittag kaputt gehen, muss ich bis Montag warten, bis ich ein Austauschgerät kriege. Meistens ist es dann auch nicht das gleiche Modell wie ich sonst trage, weshalb die Parameter nur so grob auf meine Bedürfnisse eingestellt sind, damit passen sie nicht so gut wie die mühevoll angepassten Parameter meiner eigenen Geräte.

 

KON|SENS: In Deinem Blog beschreibst Du den Wunsch nach einer Art „open source“ Hörgeräteplattform. Was soll diese ermöglichen/können?

 

HV: „Plattform“ ist in diesem Fall nicht ganz das treffende Wort. Zum einen möchte ich, dass Hörgerätehersteller die Schnittstellen zwischen Hardware- und Software und Softwarekomponenten veröffentlichen und sich auf gemeinsame Schnittstellen einigen. Im Moment ist es so, dass jeder Hersteller sein eigenes Süppchen kocht, und zwar von der Hardware bis zur Software. Eine Veröffentlichung und Standardisierung hätte den Vorteil, dass man Hard- und Software austauschen kann. Ich träume davon, dass ich mir Hörgeräte von einem Hersteller kaufen kann, aber die Software von einem anderen aufspielen kann, weil der vielleicht den cooleren Algorithmus hat. Weiter gedacht bedeutet dass, dass es auch Firmen geben könnte, die gar keine Hardware mehr herstellen, sondern nur noch Software schreiben und sich darauf spezialisieren. Noch weiter gedacht und auf die Open Source Bewegung zurückkommend bedeutet dass, dass auch Open Source Software geschrieben werden könnte, die auf der Hardware dann funktioniert. Das alles bedeutet, dass man als Kunde freier ist in der Wahl seiner Hard- und Software. Wenn mir die Algorithmen auf meinem Gerät nicht mehr gut genug sind, könnte ich mal andere ausprobieren. Wenn es Open Source Software gibt, könnte ich sie sogar selber runterladen und ändern und vielleicht neü Features hinzufügen. Auch könnte ich meine Hörgeräte öfter „updaten“ als wenn ich nur die Software auf den Geräten habe, die damals vor 3 Jahren drauf war als ich die Geräte gekauft habe.

 

KON|SENS: Arbeitest Du an einer solchen Plattform?

 

HV: Leider nicht. So gern ich das tun würde, fehlt mir leider die Zeit. Ich arbeite zwar in der Software-Industrie, aber meine Arbeit hat nichts mit Hörgeräten zu tun. Und wie das so ist, ist es schwierig neben dem Beruf noch grössere Projekte zu verfolgen.

 

Meine Tätigkeiten beschränken sich momentan eher auf das Informieren der Öffentlichkeit und der „Hackerszene“ über die Missstände, die es in der Hörgeräteindustrie gibt. Ich habe auf dem 28c3 (28. Chaos Communication Congress) einen Vortrag gehalten, der für erstaunlich viel Wirbel gesorgt hat. Ich bekomme immer noch viele Emails zu dem Thema und bin mittlerweile mit mehreren Firmen der Hörgeräte-Industrie wie auch verschiedenen Journalisten der internationalen Presse in Kontakt. Schon allein das kostet mich viel Zeit, die ich aber gerne verwende, wenn ich dadurch die Umstände für Hörgeräteträger verbessern kann.

 

KON|SENS: Ein weiterer Wunsch von Dir ist die Einführung einer „Lizenz zum selber einstellen“ der Hörgeräte. Werden Hörgeräte zukünftig nur noch von den Trägern eingestellt?

 

HV: Ich denke nicht, da ja weiterhin der grösste Teil der Hörgeräteträger älteren Semesters ist. Ich vergleiche das immer gerne mit einem Autoführerschein. Wenn ich erst mit 80 zum ersten Mal auf ein Auto angewiesen bin, dann mache ich keinen Führerschein mehr, sondern verlasse mich da auf andere Menschen, die mich fahren. Aber wenn ich jung bin, also natürlicherweise noch schnell neu Dinge lernen kann und ausserdem die Aussicht habe, dass ich die nächsten 60 Jahre noch auf ein Auto angewiesen zu sein, dann mache ich mir die Mühe und mache einen Autoführerschein. Ich denke diese Analogie trifft auf Hörgeräte und das Anpassen ganz gut zu. Die Bedienung eines Autos ist heutzutage ähnlich kompliziert, ich muss in der Lage sein, dessen „Parameter“ auf die verschiedenen Situationen einzustellen. Der Fahrlehrer erklärt mir, welcher Schalter für welche Funktion des Autos ist und nach ein paar Fahrstunden kann ich selber fahren.

 

KON|SENS:  Was wolltest Du den Hörgeräteakustikern schon immer mal sagen?

 

HV: Ihr macht einen tollen Job in der menschlichen Betreuung eurer Kunden. Bitte vergesst nicht, dass gerade die jungen oder technikliebenden Kunden andere Bedürfnisse haben als eure „typische“ Kundschaft! Wir sind auch da und ihr werdet uns noch lange als Kunden haben, wenn Ihr unser Herz gewinnt.

 

Vielen Dank an Helga Velroyen für das spannende Interview.

 

Hansueli „Voice“ Müller

KON|SENS

www.kon-sens.netvoice@kon-sens.net

 

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